Theorie und Gesellschaft
Herausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria
Kaum eine Institution ist für die Reproduktion sozialer Ungleichheit so bedeutsam wie die Vererbung von Vermögen. Doch Erbschaften widersprechen dem Leistungsprinzip, mit dem in modernen Gesellschaften soziale Ungleichheit gerechtfertigt wird. Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um? Welche Kontroversen entspannen sich um die Vermögensvererbung? Welche normativen Ansprüche werden im Erbrecht reguliert? Mit Bezug auf die Erbschaftssteuer, das Pflichtteilsrecht und die wirtschaftlichen Folgen erbrechtlicher Regulierung diskutiert Jens Beckert diese Fragen.
Inhalt
Dank ... 7
Einleitung ... 9
Teil I - Erbschaft und Moderne
Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung ... 23
Im Würgegriff der toten Hand, Mit Peter Rawert ... 37
Erbschaft und Leistungsprinzip: Dilemmata liberalen Denkens ... 41
Lachende Erben? Leistungsprinzip und Erfolgsorientierung am Beispiel der Eigentumsvererbung ... 65
Erbschaft als unverdientes Vermögen und als Kapital für Investitionen und Arbeitsplätze ... 73
Teil II - Die historische Entwicklung des Erbrechts
Die longue durée des Erbrechts: Diskurse und institutionelle Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den Vereinigten
Staaten seit 1800 ... 87
Demokratische Umverteilung: Erbschaftsbesteuerung und meritokratisches Eigentumsverständnis in den USA ... 129
Teil III - Erbschaftssteuern
Wie viel Erbschaftssteuern? ... 153
Der Streit um die Erbschaftssteuer ... 179
Teil IV - Aktuelle Herausforderungen für das Erbrecht
Familiäre Solidarität und die Pluralität moderner Lebensformen: Eine gesellschaftstheoretische Perspektive
auf das Pflichtteilsrecht ... 195
Gesellschaftspolitische Herausforderungen für das Erbrecht ... 217
Literatur ..................................................................................... 229
Quellen ...................................................................................... 245
Jens Beckert ist Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.
Sind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung
Seit über zweihundert Jahren zählt die Regulierung des Vermögensübergangsvon Todes wegen zu den Hauptanliegen von Sozialreforme rn. Im 18. und 19.Jahrhundert wurde die Reform des Erbrechts ein dringendes Anliegen von Denkernund Politikern wie Montesquieu, Rousseau, Mirabeau, Thomas Jefferson,Alexis de Tocqueville, Blackstone, Hegel, Fichte und John Stuart Mill. Sie allewaren sich über die Bedeutung einig, die ein Erbrecht, das auf den Prinzipiender Individualität, der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheitaller vor dem Gesetz beruht, für die Umgestaltung der gesellschaftlichenund familiären Ordnung hat.
Sozialreformer hielten die private Vererbung von Vermögen oft für äußerstproblematisch. Die Reform des Erbrechts wurde daher als ein wesentliches Instrumentder Gesellschaftsreform betrachtet, mithilfe dessen die feudale Ordnungaufgelöst und die bürgerliche Ordnung verwirklicht werden konnte. Sozialreformerverbanden mit der Vermögensvererbung die für aristokratische Gesellschaftencharakteristische Perpetuierung von Statusprivilegien, die im Widerspruchzu grundlegenden bürgerlichen Werten wie Gleichheit und Leistungsorientierungstand. Diese Werte sind aufs Engste mit der Entfaltung der modernenGesellschaft verbunden. Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons (1951)etwa beschrieb Gesellschaftsentwicklung anhand der von ihm defi nierten fünfpattern variables, die je zwei entgegengesetzte Ausprägungen zur Beschreibung derGrundstrukturen sozialer Beziehungen und Institutionen vorsehen. Währenddie sozialen Beziehungen in traditionellen Gesellschaften durch Affektivität,Kollektivorientierung, Partikularismus, Diffusität und Askription gekennzeichnetsind, werden sie in modernen Gesellschaften durch affektive Neutralität,Selbstorientierung, Universalismus, Spezifi tät und Leistung charakterisiert.
Im Folgenden werde ich die in einer der Pattern Variables zum Ausdruckgebrachte Gegenüberstellung näher erörtern: den Unterschied zwischen Askriptionund Leistung. Unter Askription versteht man die institutionelle Zuweisungeines sozialen Status, basierend auf Merkmalen, die einem Menschen qua Geburtzugeschrieben werden. Einer Person werden bestimmte Rechte, Pfl ichten,Rollen oder Privilegien übertragen, die auf der sozialen Stellung ihrer Eltern oder auf Merkmalen wie Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit oder Nationalitätberuhen. Demgegenüber besagt der Begriff »Leistung«, dass Vermögenund sozialer Status aufgrund des tatsächlichen Leistungsbeitrags der Gesellschaftsmitgliederverteilt werden.
Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Vermögensübertragung von Generationzu Generation schwer mit den normativen Prinzipien moderner Gesellschaftenvereinbar. Ererbtes Vermögen fällt dem Erben »mühelos« zu, durch denTod eines anderen. Indem die Vermögensvererbung den Fortbestand sozialerPrivilegien sichert, steht sie im Widerspruch zu einer Vermögensverteilung, beider Ungleichheit auf unterschiedlichen individuellen Leistungsbeiträgen beruht.Außerdem verletzt die Vermögensvererbung das Prinzip der Chancengleichheit,das möglichst gleiche Startbedingungen für alle verlangt. Wie lässt sich die »unverdiente« Erlangung von Vermögen im Kontext einer Gesellschaftsordnungrechtfertigen, die soziale Ungleichheit als Ergebnis der unterschiedlichen persönlichenLeistungsbeiträge ihrer Mitglieder legitimiert?
Doch ist für unsere heutigen Gesellschaften die Vermögensübertragung vonGeneration zu Generation wirklich noch ein Problem? Das Thema der Vermögensvererbungbeschäftigte Sozialreformer von der Aufklärung bis zur Mitte des20. Jahrhunderts, als es aus der öffentlichen Debatte fast gänzlich verschwand.Heutzutage ist es ein Randproblem, das zwar gelegentlich auftaucht, aber keine sozialpolitischenKontroversen mehr entfacht. Doch diese Beobachtung ist, für sichallein genommen, nicht interessant
Über den Autor
Jens Beckert ist Professor für Soziologie und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln.
Inhaltsverzeichnis
InhaltnnDank ... 7nEinleitung ... 9nnTeil I . Erbschaft und ModernennSind wir noch modern? Erbrecht und das gebrochene Versprechen der Aufklärung ... 23nIm Würgegriff der toten Hand, Mit Peter Rawert ... 37nErbschaft und Leistungsprinzip: Dilemmata liberalen Denkens ... 41nLachende Erben? Leistungsprinzip und Erfolgsorientierung am Beispiel der Eigentumsvererbung ... 65nErbschaft als unverdientes Vermögen und als Kapital für Investitionen und Arbeitsplätze ... 73nnTeil II . Die historische Entwicklung des ErbrechtsnnDie longue durée des Erbrechts: Diskurse und institutionelle Entwicklung in Frankreich, Deutschland und den VereinigtennStaaten seit 1800 ... 87nDemokratische Umverteilung: Erbschaftsbesteuerung und meritokratisches Eigentumsverständnis in den USA ... 129nnTeil III . ErbschaftssteuernnnWie viel Erbschaftssteuern? ... 153nDer Streit um die Erbschaftssteuer ... 179nnTeil IV . Aktuelle Herausforderungen für das ErbrechtnnFamiliäre Solidarität und die Pluralität moderner Lebensformen: Eine gesellschaftstheoretische Perspektive nauf das Pflichtteilsrecht ... 195nGesellschaftspolitische Herausforderungen für das Erbrecht ... 217nnLiteratur ..................................................................................... 229nQuellen ...................................................................................... 245
Klappentext
Kaum eine Institution ist für die Reproduktion sozialer Ungleichheit so bedeutsam wie die Vererbung von Vermögen. Doch Erbschaften widersprechen dem Leistungsprinzip, mit dem in modernen Gesellschaften soziale Ungleichheit gerechtfertigt wird. Wie gehen wir mit diesem Widerspruch um? Welche Kontroversen entspannen sich um die Vermögensvererbung? Welche normativen Ansprüche werden im Erbrecht reguliert? Mit Bezug auf die Erbschaftssteuer, das Pflichtteilsrecht und die wirtschaftlichen Folgen erbrechtlicher Regulierung diskutiert Jens Beckert diese Fragen.
Theorie und Gesellschaft
rnHerausgegeben von Jens Beckert, Rainer Forst, Wolfgang Knöbl, Frank Nullmeier und Shalini Randeria