Die literarische Welt sagt:
"DER Roman der westdeutschen 1980er Jahre."
Klaus Modick, DIE ZEIT sagt:
Dieser Roman hat die "scharfe Prägnanz einer sozialen Studie und ist geschrieben "mit einer auf Tiefenschärfe ausgerichteten Psychologie".
AUTOR: Hanns-Josef Ortheil
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Vom Autor des gefeierten Romans »Die Erfindung des Lebens«Hanns-Josef Ortheils Szene-Roman »Agenten « wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 1989 als ein genaues und eindringliches Porträt der achtziger Jahre gefeiert. Nach dem Zerfall der politischen Zirkel und alternativen Bewegungen ging es um Geld, Karriere und Konsum und damit um die Kultivierung der Ego-Welten. Kühl, respektlos und präzise seziert Ortheils Ich-Erzähler, der junge Journalist Meynard, die Psycho-Dramen einer damals beginnenden neuen Epoche.
Als virtuose Skizze einer Clique von jungen Möchtegern-Dandys wurde dieser Roman rasch zum Kultroman, dessen Aktualität und Frische sich bis heute völlig unvermindert erhalten haben.
Es war ein matter Sommer, lauter lausige Tage, und niemand von uns lie?h?ren, wie man Druck h?e machen k?nnen. Wir schliefen zu lange, hatten kaum Appetit und sa?n am fr?hen Nachmittag vor den leeren Kneipen, wenn der s??iche Schwei?der vergangenen Nacht noch in den erkalteten R?en hing. Meist redete einer zuviel, und die anderen blickten die Stra? entlang, wo sich das ferne Leben abspielte, auf das niemand schon scharf war. Ich hatte mir orientalische Zigaretten gekauft, die Schachtel f?r mehr als 5 Mark, und ich konnte nicht aufh?ren mit dem Rauchen, selbst nicht, als der Mund ganz trocken war und ein beizender, metallischer Geschmack auf der Zunge lag. Aus irgendeinem Fenster dr?hnte Musik, nichts Nerviges, nur diese Sachen von gestern, versp?t und dr?ge. Das Bier schmeckte lau, wir schoben die Gl?r schwerf?ig ?ber die verschmierten Plastiktische und tranken doch mit nur kurzen Pausen, als drohe die feine Gischt bald zu verebben. In Gedanken ging jeder die Schaupl?e des Abends durch, sich ausmalend, was sie ihm bringen w?rden. Es war alles ein Warten, nur einer wechselte laufend den Platz, um soviel Sonne wie m?glich mitzubekommen. Ich mochte diese empfindlichen Stunden nicht, ich kam nicht an gegen die Lautlosigkeit, und so sa?ich wie die anderen ungelenk herum, mit dem Stuhl auf und ab wippend. Manchmal machte sich einer auf, eine Runde zu drehen, doch wir schauten ihm nicht hinterdrein, da es unruhig machte, ihn davongehen zu sehen. Sp?r stie?er wieder zu uns, irritiert und warm getankt, als habe er sich verlaufen und sei froh, uns wiedergefunden zu haben. Wor?ber sollte man reden, um auf Touren zu kommen? Noch immer beherrschten uns diese verkappten Antriebe, sie besch?igten einen wie wacklige Bilder im fr?hen Schlummer, und man verdr?te sie ebenso schnell, wie sie aufkamen. Wir sa?n immer unbeweglicher da, die Glieder wurden steif vor lauter Selbstbeherrschung, mit der man sich gegen den halben Rausch anstemmte. Dann kam die Abendk?hle hinzu, Wellen kurzen Schauderns, die bis in die Fingerspitzen reichten. Die Gl?r waren nun von einem klebrigen Film ?berzogen, und man trank vorsichtiger, um mit den Lippen nicht zu lange das Glas zu ber?hren. Einer las das Filmprogramm herunter, doch die Titel bewegten nichts mehr wie fr?her. Ein anderer schaute pl?tzlich auf die Uhr, als sei ihm etwas eingefallen. Wer es nun packte, entschl?pfte dem dunklen Kreis, hinaus in den Abend. Ich war meist zu langsam, ich rauchte weiter, sank in den Stuhl zur?ck und atmete schlie?ich tief durch, um den Absprung einzuleiten. Ich zahlte, indem ich mich von den anderen wegdrehte. Wir hatten nicht mehr viel gemeinsam, jeder ahnte es, und doch warteten alle beschw?rend. Ich klinkte mich aus, langsam nahm mich die schwere Fremde um mich herum wieder auf. Ich sprach leise mit mir, es war eine halbherzige Sprache, und es klang wie zur Probe. Dann der anstr?mende Verkehr, und eilig, dem ersten Impuls folgend, mischte ich mich hinein.
Wir lebten in Wiesbaden, und die Stadt war gerade richtig f?r dieses bet?te Dasein. Fr?her war es die Stadt der ruhigen Mieter gewesen, jetzt aber hatten die Rentner und Pension?, die noch M?el mit schmalem Pelzbesatz trugen, l?st das Nachsehen. Jeder von uns war auf anderem Weg und zu einem anderen Zeitpunkt hierher gekommen, doch irgendwann hatten wir einmal zusammengefunden, als habe es schon immer eine Verabredung gegeben. Die meisten von uns waren auf dem Land aufgewachsen, in den D?rfern des Hunsr?cks oder am Mittelrhein, und zumindest eine Zeitlang hatten alle dasselbe Gymnasium in der Kreisstadt besucht, einen hellen, manisch zergliederten Bau aus den fr?hen siebziger Jahren, f?r den man ein halbes Waldgel?e brachgelegt hatte. Aus dieser Zeit kannten wir uns; es gab die langen Nachmittage mit den Freistunden zwischen den Chemiekursen, und es gab das heruntergekommene Caf?ahe dem Omnibusbahnhof, wo sich einem jedes Gesicht einpr?e und Phantasien dar?ber aufkamen, mit wem man gerne gesprochen h?e. Doch all diese Neugierden blieben lange ged?ft, als m??e man damit haushalten, bis es ernst werden w?rde. Am fr?hen Abend fuhren die meisten mit dem Bus in ihre D?rfer zur?ck, und f?r die Nacht blieb alles zerschnitten, gehemmt und reglos wie in den Kindertagen.
Weil wir so auf Distanz wohnten, wurden Freundschaften besonders wichtig. Ich war meist mit Blok zusammen, in der Schule sa?n wir jahrelang nebeneinander und machten gemeinsam die ?erg?e zwischen den fr?hen Altersstufen mit, so lange, bis Blok immer langsamer wurde und eine Klasse wiederholen mu?e. Blok war Franks Nachname, er wollte, da?man ihn so anredete, weil sein Vater nur Frankie gerufen wurde und ihm dadurch zu nahe kam. Frankie war ein weithin bekannter Landarzt, er war viel mit dem Wagen unterwegs und erleichterte sein schlechtes Gewissen, indem er seine Frau zu zweit?gen Wochenendtrips nach Berlin einlud, Flug und Opernbesuch eingeschlossen. Man erkannte ihn schon von weitem an seinen karierten Hemden im Countrystyle, dazu trug er einfarbige, breit auslaufende Krawatten; in der Fr?h machte er sich auf seine Jogging-Runde, immer derselbe Kurs quer durch das W?chen hinter dem Bungalow, den er nach und nach mit spanischen M?beln eingerichtet hatte. Frankie gab in der Familie den Ton an, er hatte eine weiche, sich in der Tiefe einpendelnde Stimme, die ihn selbstbewu? und sympathisch erscheinen lie? Blok hielt es in seiner N? nicht aus; all diese zielstrebig angegangenen Aktivit?n - Testfahrten mit den neuesten Automodellen vom befreundeten H?ler aus der Kreisstadt, Urlaubssafaris in Kenia im Kollegenkreis, Zelten im Hochgebirge zu den widernat?rlichsten Zeiten - wirkten nur l?end auf ihn, so da?er selbst die Ferien am liebsten ohne ihn verbracht h?e. Die Mitsch?ler verstanden ihn nicht; sie bewunderten seinen Vater oder h?en ihren eigenen gern gegen ein solches Mannsbild eingetauscht, weil sie nicht ahnten, was es bedeutete, einen auf Hochtouren laufenden Motor schon zum Fr?hst?ck neben sich zu haben. Von all dem aber wu?e ich lange nichts, denn die Freundschaft mit Blok brauchte Zeit, und er machte es einem nicht leicht.
Ich hatte ihn in der Tertia kennengelernt, als Vater die gutgehende Rechtsanwaltskanzlei in der Kreisstadt ?bernahm. Wir hatten auch zuvor auf dem Land gelebt, Vater hatte sich als Notar versucht, doch wir hatten es nicht einmal zu einem eigenen Haus gebracht, so da?ich mir mit Sarah, meiner Schwester, das Kinderzimmer hatte teilen m?ssen. Sarah war zwei Jahre j?nger als ich, sie hatte alles, was sie auftreiben konnte, gesammelt, widerlich zerzaustes Zeug von der Stra?, das sie in Einweckgl?rn aufbewahrte. Nachts hatte sie die Gl?r wegen des aufdringlichen ?gestanks vor das Fenster gestellt, manchmal war es mir zuviel geworden, und ich hatte die ganze Batterie abger?t, ohne Erfolg, weil Sarah ihre Leidenschaft fortgesetzt hatte, unerm?dlich wie ein auf ekelhafte Gegenst?e angewiesenes Tier, das seine Wintervorr? anlegt. In der Kreisstadt machten wir erste Fortschritte; wir zogen in ein kleines Reihenhaus, und von da an konnte Sarah ihre Brut unter dem Bett h?ten, denn wir hatten nun getrennte Zimmer und kamen uns nicht l?er in die Quere.
An unserem ersten Schultag hatte Vater uns mit dem Wagen zum Gymnasium gefahren, und der Direktor hatte mich pers?nlich zu meiner Klasse gebracht. Der Tag hatte mit Deutsch begonnen, und ich war auf den einzigen freien Platz gesetzt worden, neben Blok, der ein Gesicht gezogen hatte, als werde ihm ?bel, weil man ihm etwas Raum gestohlen hat. Ich war nach meiner alten Penne gefragt worden und danach, was wir dort zuletzt durchgenommen h?en, und ich hatte die Ballade von John Maynard aufgesagt, John Maynard war unser Steuermann, aushielt er, bis er das Ufer gewann. Von da an hatten mich alle Maynard genannt, sowas verdankt man Fontane, doch ich hatte den Spitznamen angenommen und mich schlie?ich selbst so getauft, nur mit >e<, um nicht alles ohne Gegenwehr mitzumachen. Meynard war ein guter Name, er klang nach etwas Eigenst?igem, ich habe ihn bis heute beibehalten.
Damals sa?Blok da wie ein Fremder. Er hatte dichtes, schwarzes, rechts gescheiteltes Haar, so sauber kurz geschnitten, als werde er zu einem Spezialfriseur geschickt. Er trug Pullover, fein gestrickt und weit, duftend nach Weichsp?ler, dazu blank polierte Schuhe, wie von einem Butler gepflegt. Er meldete sich nie, sa?mit eingezogenem Kopf in der Bank und schaute nur auf, wenn etwas an die Tafel geschrieben wurde. Er blieb stumm, tat, als gebe es mich nicht, und f?hrte seine Hefte so ordentlich, da?ich oft hinschauen mu?e. Er benutzte Buntstifte, Marke Faber-Castell, zwanzig verschiedene, nebeneinander liegend in einer dunkelgr?nen Blechschachtel, und er schrieb mit einem alten F?ller, einem Pelikan mit freiliegender Feder, die er mit einem Tuchballen regelm?g abtupfte.
Er kam mir sehr verw?hnt vor, und er hatte Manieren wie einer, dem man alles L?ige abgenommen hatte. In den Pausen spielte er mit den anderen nur wie zum Test, ein paar Sprints, kurze Ballkontakte, gezielte W?rfe, weit ?ber das Feld; sp?r wusch er sich gr?ndlich die H?e. Ich sah ihn nie mit ger?tetem Kopf, er schien kaum zu schwitzen, selbst nicht bei besonderen Anstrengungen. Er turnte gut, am besten gelang ihm die Hocke am Pferd, doch niemand sah ihn lange an den Ger?n, es war, als gehorchten seine Glieder sofort dem, was er sich vornahm. Am liebsten spielte er Basketball; es war genau das richtige Spiel f?r ihn, er ber?hrte den Ball nur mit den Fingerspitzen und schien beim Korbwurf zu wachsen, kurz, f?r einen Moment, bevor er den Ball losschickte. Nur bei diesem Spiel fiel er auf, weil er meist zu lange am Ball blieb, dribbelnd, die anderen foppend, mit dem Blick eines Belustigten, der allen etwas vorzauberte. Doch ihm fehlte der Ehrgeiz, der zu einem ausdauernden Training geh?rte, und so nahm man ihn nicht in die Klassenmannschaft auf, wo man auf Pauls Kommando h?rte, denn Paul war der Sprecher, und er vergab nach jedem Spiel Noten, um alle im Griff zu behalten.
Ich tat nichts, um Bloks Schweigen zu brechen. Wochenlang sa?ich neben ihm, ohne ihn etwas zu fragen; ich respektierte, da?er f?r sich sein wollte, und meldete mich weniger als fr?her, damit er mich nicht f?r einen Streber hielt. Ich wu?e nicht, was er so von mir dachte, und ich war zu stolz, ihm entgegenzukommen, denn er schien zu glauben, er habe einen Vorsprung vor uns.
Fast jeden Morgen brachte Vater Sarah und mich mit dem Wagen zur Schule, und wenn es sich ergab, ging ich nach Schulschlu?mit Walter nach Hause, denn Walter wohnte in der N?. Ab und zu begleitete ich auch einige Mitsch?ler zum Busbahnhof und wartete dort mit ihnen; dann sahen wir Blok, wie er eine Cola im Caf?rank, allein an einem Tisch, in einer Illustrierten bl?ernd. Er kam nie zu uns her?ber, erst wenn der Bus vorrollte, trank er sein Glas aus und machte sich auf den Weg. Im Bus setzte er sich ganz nach hinten, und sp?r sah ich seinen langgestreckten Hinterkopf, wenn der Bus in die Hauptstra? einbog.
Ich hatte mir vom Leben in der Kreisstadt etwas erhofft, doch schon bald war es so langweilig wie fr?her, zuviel Schule und die wenigen Stra?n, die man schnell satt hatte. Ich traf mich mit Walter, und wir fuhren auf R?rn hinaus zum Bolzplatz. Fu?all zu spielen war eine Endlosbesch?igung, jeder Nachmittag ein Langlauf ohne Pausen, mit einer Strecke, die einen meist ?berforderte. Am Abend war der K?rper wie tot, als sei alles Blut in die Beine gesackt, und ich kam erst auf meiner Liege zu mir, wenn Sarah nebenan mit ihren Freundinnen zeterte. Sie traten auf wie ein Schwarm, immer redeten mehrere zugleich und verbesserten sich gegenseitig rechthaberisch, wobei es oft um die Gewohnheiten der Eltern ging. Ich h?rte, wie Sarah darauf bestand, da?Vater ein guter Anwalt sei; sie glaubte, er trete vor Gericht auf wie ein Star, denn sie wu?e nicht, da?es in solchen Gerichten ohne Geschworene zuging. Sie fragte ihn aus, wenn er am Abend mit seinen Akten nach Hause kam, doch er wollte nichts h?ren, zog die Schuhe aus, lockerte seine Krawatte, ?ffnete den Kragenknopf und streckte sich in seinen Sessel. Ich sah, wie er sp?r die Akten studierte; er war viel zu ersch?pft, und die Akten rutschten ihm aus den Fingern, wenn er seiner M?digkeit nachgab. Waren wir im selben Zimmer wie er, mu?en wir still sein; doch er las nur, damit wir Ruhe hielten und er sich nichts f?r uns ausdenken mu?e.
F?r mich war die Zeit der Kinderspiele vorbei, ich wu?e es genau, wenn ich Sarah beobachtete, die mit ihren Freundinnen Familien gr?ndete, Kinder aufzog und f?rs Essen sorgte. Am liebsten w? ich st?ig weit weggefahren, raus aus dieser Kleinstadt, wo man in den Gesch?en nach dem Namen der Eltern gefragt wurde. So vertrieb ich mir die meiste Zeit mit dem Fahrrad, das war das Beste, lange Anstiege mit dem glasigen Blick auf die paar Meter voraus und schnelle Abfahrten, wenn k?hler Wind den schwei?assen R?cken abtastete. Auf die Ziele kam es nicht an, es waren immer dieselben Hunsr?ckd?rfer, Durchfahrtstra?n mit l?igen Ampeln und eine Tankstelle am Ortsausgang.
Ich fuhr allein, manchmal mit Walter, seltener auch mit mehreren. Walter hatte Karotten dabei, b?ndelweise in den Fahrradtaschen verstaut, denn seine Eltern f?hrten einen Gem?seladen, in dem er stundenweise aushalf, an den Abenden oder samstagmittags, wenn es hoch herging. Er war viel kleiner als ich, und doch war er meist schneller, z?und unerm?dlich voran, als m?sse er Fahrt machen, um mich mitzuziehen. Wenn wir genug gestrampelt hatten, hielten wir auf einem H?henpunkt, und Walter kramte die Karotten hervor, als verf?ttere er sie zur Belohnung. Wir blieben sitzen, bis der K?rper abgek?hlt war; ich fragte Walter, wo sein Vater ein Bein verloren habe, und er erz?te davon, da?sein Vater am Kriegsende Flakhelfer gewesen sei und bei einem Luftangriff auf die Stellung als einer von wenigen ?berlebt habe. Walter sprach nicht gerne dar?ber, obwohl er zu seinem Vater hielt und es ihm nichts ausmachte, mit ihm ins Schwimmbad zu gehen. Wenn er erz?te, war es, als habe er selbst damals gelebt, denn er hatte pr?se Informationen parat wie einer, der sich mit eigenen Augen ein genaues Bild gemacht hatte.
So kamen wir viel herum, und einmal hatten wir uns in der Gruppe an die Abfahrt hinunter zum Rhein gewagt, lauter Serpentinen, gegen deren Windungen wir anbremsen mu?en, bis wir nach fast einer Stunde das Flu?al erreichten. Im Ort gab es lauter Weinlokale, und in den Schaufenstern der Gesch?e lagen bunte Souvenirs, glasierte Holzscheiben mit eingebrannten Trinkspr?chen und T-Shirts, die man mit einer Karte des Flu?aufs bedruckt hatte. Wir stellten die R?r am Ufer ab und schauten uns die vorbeifahrenden Schiffe an, eine ruhige Parade, die einen zunehmend sehns?chtiger machte. Paul kommentierte, denn er hatte etwas Ahnung, weil ein Onkel von ihm als Lotse arbeitete; wir anderen aber waren still, der pl?tzliche Anblick des Flusses war erschreckend, ein weites Zuviel mit den Felsmassiven an beiden Seiten.
Dann liefen wir weiter am Flu?entlang und standen schlie?ich dort, wo die F?e ablegte; sie machte gerade vom Ufer los und setzte sich quer gegen die Str?mung. Die meisten Fahrg?e waren in ihren Autos sitzengeblieben, nur rechts vorn, vor der eisernen Kette, stand einer unbeweglich, mit dem Blick hin?ber. Ich erkannte den langgestreckten Hinterkopf und das schwarze, gescheitelte Haar, niemand sonst bemerkte etwas, und wir gingen zu unseren R?rn zur?ck. Am n?sten Morgen sprach mich Blok zum ersten Mal an; es war nach der gro?n Pause, und wir ?bersetzten einen englischen Text. Blok bl?erte in seinem Buch, und, ohne mich anzusehen, fragte er mich, so leise, da?gerade nur ich ihn verstehen konnte: ?Sag mal, was treibst du die ganze Zeit mit den Schei?rn??
So waren wir Freunde geworden, und Blok tat, als m?sse er daf?r sorgen, meine Standards zu heben. Er hatte eine Art von Verachtung f?r alles ?liche, die mich oft hilflos machte, und er kritisierte einen scharf, wenn man die Meinungen anderer vorschnell teilte. Seit das Eis zwischen uns gebrochen war, zogen wir oft gemeinsam los; meist fuhren wir nachmittags mit dem Bus an den Rhein, denn Blok wollte das Rad am Abend nicht den Berg hinauf schieben. Er bekam reichlich Taschengeld, wir profitierten beide von der Gro??gigkeit seines Vaters, kauften uns russische Zigaretten und schauten den Fremden zu, die mit den wei?n Schiffen kamen und sich immer in dieselben Winkel verliefen.
Blok trieb sich nicht gern herum; er konnte stundenlang in einem Caf?itzen, Leute beobachten und Zeitungen lesen. Er hatte Lust an frechen Bemerkungen, und er spielte den R?cksichtslosen, der sich zu niemandem hingezogen f?hlt und von anderen nicht viel erwartet. Wer nicht Bescheid wu?e, hielt ihn f?r ?er als mich, er erschien altklug und doch h?flich, so da?er Eindruck auf meine Mutter machte, die ihn f?r den passenden Kameraden hielt.
Manchmal ?bernachtete er bei uns und sa?am Morgen mit zusammengekniffenen Augen am Fr?hst?ckstisch; ich beneidete ihn um seine Freiheiten, denn seine Eltern verweigerten ihm nichts, und er brauchte nur kurz anzurufen, wenn er nicht heimkommen wollte. Er war ein Einzelkind, auch da hatte er Gl?ck gehabt, denn er kam nicht jeden Tag mit einer j?ngeren Schwester in Ber?hrung, die ihn mit ihren hysterischen Anf?en plagte. Von zu Hause erz?te er wenig, und er lud mich nicht ein, mit ihm zu kommen, als bef?rchte er, mir zuviel Einblick zu g?nnen. Ich lie?ihn damit in Ruhe, irgendwann w?rde er auch diesen Schritt tun, da war ich sicher.
Seit ich Blok kannte, war das Leben in der Kreisstadt noch unertr?icher. Ich bekam Wutanf?e, wenn ich etwas besorgen sollte, denn diese Boteng?e kamen mir vor wie Spie?utenlaufen. Die Gesch?e hatten etwas Modriges, als seien sie schlecht durchl?ftet, und die Verk?erinnen waren nie bei der Sache, so da?man ihnen im Kopfrechnen immer um Minuten voraus war. Diese kleinen Erledigungen qu?en mich, denn sie standen f?r das Leben auf dem Land, wo sie einem die Zeit stahlen und Stunden damit zubrachten, Geschichten von anderer Leuts Familien in Umlauf zu halten. Solche Geschichten wurden ?ber meinen Kopf weg erz?t, sie waren der d?rftige Lebensstoff der Provinz, eine dauernde Beschw?rung der ewig gleichen, miesen Verh?nisse. Sarah und mir war aufgetragen worden, so zu tun, als h?rten wir nichts, aber ich ahnte, da?wir wie alle anderen Bewohner schon l?st zur Zielscheibe dieser Verdrehungen geworden waren. Ich f?hlte mich laufend beobachtet, und immer waren es Blicke wie auf einen vom anderen Stern. Ich konnte mich daran nicht gew?hnen, diese nachspionierende Mimik war zu pr?nt, am liebsten h?e ich mich unsichtbar gemacht. Doch es gab kein Entkommen, so da?ich manchmal in Panik geriet und mich in meinem Zimmer einschlo? Mutter nannte dieses Verhalten pubertierend, sie beruhigte sich gern mit solchen Begriffen, die nichts besagten. Erwachsene konnten diesen Zustand nicht begreifen, denn sie lebten ganz woanders, auf irgendwelchen Inseln, von mir abgeschirmt durch lauter Redensarten.
Die Jahre damals waren schlimm, noch in der Erinnerung str?t sich alles gegen die Einzelheiten. Ich kam mir ausgesetzt vor, ein Ureinwohner des Dschungels, den man in die W?ste verfrachtet hatte. Ich empfand eine dauernde Unruhe, und jeder Tag begann mit diesem abwiegelnden und vertr?stenden Hinhalten, das Mutter beim Fr?hst?ck verteilte. Sie redete sich ein, uns alle unterst?tzen zu m?ssen, vor lauter Selbstlosigkeit war sie ganz bleich geworden. Ich mochte ihren Opferblick nicht, Familiengeschenke waren bei mir nicht gefragt. Sie hatte ein Faible f?r Psychologie, und sie benutzte diesen ganzen halbverdauten Schrott dazu, Sarah und mich an die Leine zu nehmen. Was auch immer wir anstellten, ersch?tterte sie, am schlimmsten aber war die antrainierte Nachsicht, mit der sie unsere angeblichen Fehlleistungen entschuldigte. Sie hatte sich vorgenommen, uns zu verstehen, doch gerade dieses Verst?nis lie?einen aufmucken, weil man keine Figur sein, sondern ganz f?r sich leben wollte. Sie begriff nicht, da?es am einfachsten gewesen w?, uns in Ruhe zu lassen; stattdessen war sie schon in der Fr?he laufend um einen herum, zuckerte einem den Tee, schob einem die Butter hin und redete dazu wie ein Engel, der alles B?se schon abwenden w?rde.
Dabei berauschte sie sich an den Details; ich war sicher, es
sagte ihr etwas, wie Sarah den L?ffel hielt und wieviele Brote ich a? In ihrem Kopf wuchsen all diese Informationen zu monstr?sen Pers?nlichkeitsbildern zusammen. Bei ihrem Plappern wurde mir hei? es ?elte dem k?dernden Murmeln von Photographen, die ihrem Opfer Entspannung eintr?eln wollen. Letztlich aber lauerte immer ihr Blick, er sortierte unsere Geb?en und brachte sie mit jenen Reizw?rtern in Verbindung, die um den Fetisch der Libido kreisten. Uns gegen?ber hielt sie diese W?rter zur?ck, aber sie telephonierte viel, und die Gespr?e mit ihren zahlreichen Freundinnen durchst?berten all diese seelischen R?e nach dem Verborgenen oder dem lauernd Latenten.
Manchmal dachte ich w?end der Schulstunden an sie, wie sie das kleine Haus durchstreifen w?rde auf der Suche nach einer befriedigenden T?gkeit. Sie konnte sich schlecht konzentrieren und mu?e sich jede Arbeit lange vornehmen, um sich auf sie einzustimmen. So wanderte sie herum, las Zeitungen in der K?che, ?ffnete irgendwo ein Fenster oder verschwand im Keller, denn das feuchte Dunkel dort unten war wie ein Versteck. Sie brauchte viel zu lange, um sich anzukleiden, den halben Morgen verbrachte sie in einem Mantel aus blauem Frottee, der bis zum Boden reichte. Sp?r suchte sie die Kleidung f?r den Tag zusammen, langsam und w?erisch, als k?nnte schon ein falscher Griff die Stimmung tr?ben. Sie gab sich oft etwas Strenges, trug eng anliegende Kost?me und steckte das lange Haar mit kleinen K?en zusammen, die hinter den straff sitzenden Partien verschwanden. Zweimal in der Woche erschien eine Hilfe, und sie sprach mit der viel j?ngeren Frau wie ein M?hen zum anderen. Sie wollte sich immerzu gut unterhalten, sie brauchte diesen Austausch von Einsichten, doch in der Familie waren ihre Themen gef?rchtet, denn sie lie?uns nicht los, bis sie alles durch ihre M?hlen gedreht hatte. Bei solchen Gespr?en konnte sie sich begeistern, ich glaube, sie war nur auf der Suche nach geeigneten Partnern, doch die Stadt hatte auch ihr nur wenig zu bieten.
Manchmal lud sie die verschiedensten Leute zu einer Abendgesellschaft ein und wartete ungeduldig darauf, da?das Essen vorbei sein w?rde; sie hatte keine Freude am Kochen, all diese Vorbereitungen dienten nur dazu, die Laune der G?e zu heben, sie fit zu machen f?r die Unterhaltung danach. Sie dr?te Vater, Wein einzuschenken, sie gierte geradezu nach den ersten, vom Lob der K?che und dem ?blichen Hymnus auf die Einrichtung abschweifenden S?en, dann schnappte sie zu und stachelte alle zu besonderen Leistungen an. Bei solchen verbissen gef?hrten Gespr?en bl?hte sie auf, bis hin zur hei?n Phase, wo es nur noch um die besseren Schlagworte ging. Zum Schlu?hatte sie alle soweit, f?r oder gegen etwas zu sein, und erst dann erschien sie erleichtert, als habe sie einem jeden etwas entlockt. Vater lie?sie gew?en, er k?mmerte sich wenig um ihre Interessen; er h?e sich lieber solche Strapazen erspart, aber zu sp?r Stunde hielt er gut mit, weil die meisten Themen dann Rechtsfragen streiften. Wenn er Erfolg gehabt hatte, h?rte man bei der Verabschiedung seine laut gewordene Stimme; f?r einen dichten Moment war es ganz still, dann setzten die sanften, entspannenden Rhythmen des Jazz ein, leise, ged?ft.
Ich war sicher, da?ich von Vater nichts lernen konnte. Er hatte eine linkische Art und konnte sich nicht einmal ans Autofahren gew?hnen. Er fand keinen Spa?an technischen Dingen, und wenn im Haushalt etwas defekt war, war es am besten, gleich einen Fachmann zu rufen. Vater hielt sich bei allem nur auf; er t?ftelte blindlings herum und gab sich den Anschein des Kundigen. Irgendwann mu?e er passen, meist erst nach gutem Zureden. Vielleicht glaubte er, seinen Mann stehen zu m?ssen, aber er ging es falsch an, viel zu omnipotent, so da?es am Ende erschien wie ein Versagen.
Morgens stand er als Erster auf; er war schon so fr?h in unn?tiger Eile, als k?nne er gar nicht schnell genug zur Arbeit kommen. Wenn er aufgestanden war, brauchte er Leben um sich, so da?man leicht von seiner Betriebsamkeit angesteckt wurde. Unter der Dusche geriet er in Fahrt, und wir h?rten ihn, wie er Signale von sich gab, als m?sse er eine ganze Herde um sich versammeln. In Wahrheit war er nerv?s; die bevorstehende Arbeit bedr?ckte ihn, und er versuchte, dieses schlechte Gef?hl zu vertreiben, indem er sich wie ein Befehlshaber auff?hrte. Niemand wollte mit ihm wetteifern, doch meist brachte er es fertig, uns zu seinen Konkurrenten zu machen.
Manchmal denke ich, seine Unsicherheit r?hrte daher, da?er nie die richtige Zeiteinteilung fand; noch die Ferien verplante er, indem er Routen mit exakt bestimmten Tagesaufenthalten festlegte. Er hatte seine Freude daran, wenn alles reibungslos und ohne Verz?gerungen verlief. Wir fuhren meist nach Frankreich, durch Burgund und weiter ans Mittelmeer; im Ausland kommentierte er gern sein Befinden, als werde man dort selbst zu einer Sehensw?rdigkeit. Er tat, als habe er es auf Schl?sser und Kirchen abgesehen, doch er konnte einfach nicht leben, ohne sich an Pflichten zu halten. Irgendwann hatte er verlernt, mit anderen umzugehen, und so regelte er unser Zusammensein wie einen Verkehr zwischen juristischen Parteien. Wir waren eine auseinanderstrebende Familie, jeder von uns suchte seinen eigenen Weg, aber nur Vater verwechselte Zickzacklinien mit geraden Strecken.
Mit der Zeit wurde die Schule zum Horror. Platz nehmen und sich drosseln, schwach mithalten, gerade so, da?die facts ankommen. Rechtzeitig Funkstille einlegen, d?sen bis ultimo, dann durchstarten bei einer Runde Franz?sisch. Hier zwei-, dreimal Eindruck machen, antworten, bevor du gefragt wirst. Umsteigen auf den historischen Zug, die verquaste deutsche Geschichte, Wilhelm der Kaiser, Weimar und Hitler, das Gro?aul. Tempo rausnehmen, Betroffenheitsnirwana. Zwanzig Minuten Pause, das reicht f?r zwei Zigaretten und einen Kaffee. Latein, der klassische Ton, ein dumpfer Inzest von Worten. Ruhestellung, den Kopf in beide H?e gest?tzt, der Mittag r?ckt n?r. Noch einmal waches Interesse vorzaubern, jetzt bist du da, einmal soll es dich packen. Goethe, Faust I, was macht das Grenzenlose mit dir? Gekonnt reden, ein wenig ?ber das Ma? Mephisto ausstechen und gelinder Spott f?r Gretchen, das dumme. Dann Physik, wie treffen die Strahlen aufs Auge, Zeit zum Zeichnen, feine Ablenkung. Jetzt gut in der Kurve, Religion ausfallen lassen, statt dessen ein paar Punkte in Geographie, Beifall auf der Zielgeraden. Du sch?ner Mittag. Wieder zwei Zigaretten, und im Sommer zum Schwimmen. Die Frau ist ein Luxusgesch?pf und nichts zum Dranr?hren. Lange Betrachtung des Himmels, kurzes D?ern, dann rasches Durchforsten des gesamten Gehirns. Sich der Best?e versichern, Schulb?cher, auf dem R?cken liegend, gegen die Sonne halten. Rasanter Wissenserwerb, Vermehrung der zentralen Ressourcen. Wieder abschalten, insgesamt Tao, Nachmittagsgelassenheit. Niemals plaudern, erst recht nicht bei Telephonaten mit Blok. Abchecken, wieviel Energien dir noch geblieben sind, und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Auf dem Rad f?r f?nf Minuten das Letzte aus dir herausholen, entweder jemanden treffen oder allein gegen alle. Walters Vater beim Reintragen der Obstkisten helfen und die Hilfe mit einem Freibier quittieren lassen. Die Sinne an Abendphantasien anschlie?n und doch nur mit dem Rad durch die Stille, bis die Ern?chterung eintritt. Sich verabschieden, wann kommen wir wieder zusammen, und heim ins unscharfe Bild der um zwei Kinder vermehrten Ehe.
Meist war Blok so gr?ndlich vorbereitet, da?es sich lohnte, bei ihm abzuschreiben. Auf meine forschenden Blicke reagierte er nicht, er schrieb langsam, fast peinlich bed?tig, als habe er mehr Zeit als wir anderen. In Englisch war er der Beste von allen, mit seinen gew?ten Wendungen verschaffte er sich selbst bei den Lehrern Respekt. Ich beneidete ihn um sein hexenhaftes Ged?tnis, einen kostbaren Speicher, den er exquisit f?tterte. Seine Haare trug er nun l?er, einen schwarzen Schopf mit einer einzelnen geflochtenen Str?e, gepflegt wie bei Pferden. Die Ferien durfte er bei einer befreundeten Familie in England verbringen; auf einer Karte gr??e er mich mit drei Worten, und als er zur?ckkam, sprach er sein fl?ssiges Englisch mit einem leichten Akzent.
Zwei Wochen danach fuhr ich mit dem Rad das erste Mal zu ihm nach Hause. Ich mu?e das Haus erst eine Weile suchen, der gro? Bungalow lag abseits, kaum noch verbunden mit der gerade entstandenen Siedlung. Blok hatte mich eingeladen, er ?ffnete auf mein Klingeln die T?r und f?hrte mich in den k?hlen Flur.
Vom Autor des gefeierten Romans »Die Erfindung des Lebens«Hanns-Josef Ortheils Szene-Roman »Agenten « wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 1989 als ein genaues und eindringliches Porträt der achtziger Jahre gefeiert. Nach dem Zerfall der politischen Zirkel und alternativen Bewegungen ging es um Geld, Karriere und Konsum und damit um die Kultivierung der Ego-Welten. Kühl, respektlos und präzise seziert Ortheils Ich-Erzähler, der junge Journalist Meynard, die Psycho-Dramen einer damals beginnenden neuen Epoche.
Als virtuose Skizze einer Clique von jungen Möchtegern-Dandys wurde dieser Roman rasch zum Kultroman, dessen Aktualität und Frische sich bis heute völlig unvermindert erhalten haben.
"DER Roman der westdeutschen 1980er Jahre." Die literarische Welt
Ortheil, Hanns-JosefHanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Es war ein matter Sommer, lauter lausige Tage, und niemand von uns lie h ren, wie man Druck h e machen k nnen. Wir schliefen zu lange, hatten kaum Appetit und sa n am fr hen Nachmittag vor den leeren Kneipen, wenn der s iche Schwei der vergangenen Nacht noch in den erkalteten R en hing. Meist redete einer zuviel, und die anderen blickten die Stra entlang, wo sich das ferne Leben abspielte, auf das niemand schon scharf war. Ich hatte mir orientalische Zigaretten gekauft, die Schachtel f r mehr als 5 Mark, und ich konnte nicht aufh ren mit dem Rauchen, selbst nicht, als der Mund ganz trocken war und ein beizender, metallischer Geschmack auf der Zunge lag. Aus irgendeinem Fenster dr hnte Musik, nichts Nerviges, nur diese Sachen von gestern, versp t und dr ge. Das Bier schmeckte lau, wir schoben die Gl r schwerf ig ber die verschmierten Plastiktische und tranken doch mit nur kurzen Pausen, als drohe die feine Gischt bald zu verebben. In Gedanken ging jeder die Schaupl e des Abends durch, sich ausmalend, was sie ihm bringen w rden. Es war alles ein Warten, nur einer wechselte laufend den Platz, um soviel Sonne wie m glich mitzubekommen. Ich mochte diese empfindlichen Stunden nicht, ich kam nicht an gegen die Lautlosigkeit, und so sa ich wie die anderen ungelenk herum, mit dem Stuhl auf und ab wippend. Manchmal machte sich einer auf, eine Runde zu drehen, doch wir schauten ihm nicht hinterdrein, da es unruhig machte, ihn davongehen zu sehen. Sp r stie er wieder zu uns, irritiert und warm getankt, als habe er sich verlaufen und sei froh, uns wiedergefunden zu haben. Wor ber sollte man reden, um auf Touren zu kommen? Noch immer beherrschten uns diese verkappten Antriebe, sie besch igten einen wie wacklige Bilder im fr hen Schlummer, und man verdr te sie ebenso schnell, wie sie aufkamen. Wir sa n immer unbeweglicher da, die Glieder wurden steif vor lauter Selbstbeherrschung, mit der man sich gegen den halben Rausch anstemmte. Dann kam die Abendk hle hinzu, Wellen kurzen Schauderns, die bis in die Fingerspitzen reichten. Die Gl r waren nun von einem klebrigen Film berzogen, und man trank vorsichtiger, um mit den Lippen nicht zu lange das Glas zu ber hren. Einer las das Filmprogramm herunter, doch die Titel bewegten nichts mehr wie fr her. Ein anderer schaute pl tzlich auf die Uhr, als sei ihm etwas eingefallen. Wer es nun packte, entschl pfte dem dunklen Kreis, hinaus in den Abend. Ich war meist zu langsam, ich rauchte weiter, sank in den Stuhl zur ck und atmete schlie ich tief durch, um den Absprung einzuleiten. Ich zahlte, indem ich mich von den anderen wegdrehte. Wir hatten nicht mehr viel gemeinsam, jeder ahnte es, und doch warteten alle beschw rend. Ich klinkte mich aus, langsam nahm mich die schwere Fremde um mich herum wieder auf. Ich sprach leise mit mir, es war eine halbherzige Sprache, und es klang wie zur Probe. Dann der anstr mende Verkehr, und eilig, dem ersten Impuls folgend, mischte ich mich hinein.
Wir lebten in Wiesbaden, und die Stadt war gerade richtig f r dieses bet te Dasein. Fr her war es die Stadt der ruhigen Mieter gewesen, jetzt aber hatten die Rentner und Pension , die noch M el mit schmalem Pelzbesatz trugen, l st das Nachsehen. Jeder von uns war auf anderem Weg und zu einem anderen Zeitpunkt hierher gekommen, doch irgendwann hatten wir einmal zusammengefunden, als habe es schon immer eine Verabredung gegeben. Die meisten von uns waren auf dem Land aufgewachsen, in den D rfern des Hunsr cks oder am Mittelrhein, und zumindest eine Zeitlang hatten alle dasselbe Gymnasium in der Kreisstadt besucht, einen hellen, manisch zergliederten Bau aus den fr hen siebziger Jahren, f r den man ein halbes Waldgel e brachgelegt hatte. Aus dieser Zeit kannten wir uns; es gab die langen Nachmittage mit den Freistunden zwischen den Chemiekursen, und es gab das heruntergekommene Caf ahe dem Omnibusbahnhof, wo sich einem jedes Gesicht einpr e und Phantasien dar ber aufkamen, mit wem man gerne gesprochen h e. Doch all diese
Über den Autor
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Klappentext
Vom Autor des gefeierten Romans »Die Erfindung des Lebens«
Hanns-Josef Ortheils Szene-Roman »Agenten « wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 1989 als ein genaues und eindringliches Porträt der achtziger Jahre gefeiert. Nach dem Zerfall der politischen Zirkel und alternativen Bewegungen ging es um Geld, Karriere und Konsum und damit um die Kultivierung der Ego-Welten. Kühl, respektlos und präzise seziert Ortheils Ich-Erzähler, der junge Journalist Meynard, die Psycho-Dramen einer damals beginnenden neuen Epoche.
Als virtuose Skizze einer Clique von jungen Möchtegern-Dandys wurde dieser Roman rasch zum Kultroman, dessen Aktualität und Frische sich bis heute völlig unvermindert erhalten haben.