SWR sagt:
"Ein Roman von bewundernswerter Authentizität ..."
Hans Bender sagt:
"Der Leser, gleich welchen Alters, wird mitgezogen in den Sog dieser Suche und auch er nimmt teil am Gewinn, den der Ich-Erzähler am Ende für sich notieren kann. Ihm ist die ,Wahrheit der Vergangenheit' um viele Grade erhellt."
AUTOR: Hanns-Josef Ortheil
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Ein nach dem Zweiten Weltkrieg geborener Sohn nutzt die Woche, die er im Haus seiner Eltern verbringt, um mehr über das Leben seiner Mutter während der Nazi-Zeit zu erfahren. Er liest ihre Briefe, spricht mit Freunden und Verwandten und gerät so immer tiefer hinein in die Geschichte einer mutigen und tapferen Frau, die in diesen Jahren ihre ersten beiden Kinder verlor. "Hecke" ist die Geschichte einer verstörenden Recherche und einer intensiven Suche des Nachgeborenen nach einer Sprache, mit deren Hilfe er schließlich auch seine eigene entdeckt und erzählt. Nach dem Debütroman "Fermer" erzählt Hanns-Josef Ortheil hier in deutlich autobiographischer Manier von den verborgenen Hintergründen seiner Kindheit.
MONTAGABEND
Gestern abend habe ich meine Mutter zur Bahn gebracht, nun bin ich allein. Als sie mich am Telefon fragte, ob ich während ihrer Abwesenheit das Haus hüten wolle, habe ich sofort zugesagt. Es ist März, und an den Abenden hält sich die Wärme schon auf der kleinen Anhöhe, auf der das Haus mitten im Wald steht. Ich habe im Winter viel gearbeitet, die Ruhe hier wird mir guttun. So brauchte ich nicht lange zu überlegen. Im Büro hatte niemand etwas gegen meine Abwesenheit einzuwenden. Ich bin Architekt, aber ich liebe meinen Beruf nicht besonders. Meine Gedanken sind, wie man so sagt, oft woanders. Ich habe eine starke Neigung zur Musik, und wenn dies und das sich erfüllt hätte, wäre ich ein guter Pianist geworden. Aber es genügte mir nicht, ein mittelmäßiger Pianist unter tausenden zu sein. Ich war ehrgeizig, und als mich der Ehrgeiz aufzufressen begann, entschloß ich mich, einen Beruf zu wählen, in dem er nichts ausrichten konnte. Wahrhaftig, allmählich ist dieser Siegeswille erstickt. Das ist gut so. Ich bin recht bescheiden geworden. Ich lebe allein, die meisten Frauen langweilen mich. Sollte ich ihnen meine Gegenwart zumuten, die Gegenwart eines ruhelosen und schließlich doch nur mit sich selbst beschäftigten Einzelgängers, der zuviel gelesen und zuviel Musik gehört hat, um sich in dieser Welt noch auszukennen? Nein, mir liegt kein Werben, kein freundliches Gesicht, in gewissem Sinn erscheine ich streng. Die Kollegen achten mich, das ist gut so. Mehr verlange ich nicht. Innerlich bin ich mit anderen Dingen beschäftigt. Käme eine Frau, um mich besitzen zu wollen — sie müßte einen Berg erstürmen, sie müßte die Kräfte von Titaniden haben. Wem sollte ich das zumuten? Einmal wäre es fast soweit gekommen. Aber im letzten Augenblick habe ich bemerkt, daß ich verurteilt sein würde, ein Leben zu zweit zu führen. Weiß einer genau, was das heißt? Ich wußte es plötzlich. Soviel Verantwortung kann ich nicht tragen. Ich würde meine Frau enttäuschen, und es gelingt mir ganz gut, allein zu sein. Nein, ich bin nicht unzufrieden, nur störrisch, nur besessen von meinen Launen. Aber niemand nimmt einen Schaden daran. Im Büro erscheine ich selten freundlich, aber man kann sich auf mich verlassen. Ich helfe meinen Kollegen, wenn sie einmal früher nach Hause wollen, um auszugehen oder mit der Familie einen schönen Abend zu verbringen. Ich besitze kein Fernsehen, Fernsehbilder fesseln mich nicht; ich lese viel, ich höre Musik bis spät in die Nacht, oh, ich bin gerne allein.
Auch in diesem Jahr ist mein Vater wieder in die Schweiz gefahren, um sich für einige Wochen zu erholen. Meine Mutter hält es nicht so lange dort aus. Die Fremde beunruhigt sie. Gerade in Städten, die sie noch nicht gut genug kennt, gerät sie mit der Zeit in immer größere Verstörung. Oft zieht sie sich in ihr Hotelzimmer zurück, um dort die Nachmittage zu verbringen, an denen die Zeit, wie sie sagt, sehr langsam vergeht, viel langsamer als daheim. Erst an den Abenden traut sie sich hinaus. Mein Vater hat dann meist schon weite Spaziergänge gemacht; er ist hier und da stehengeblieben und hat seine Unterhaltungen mit den Einheimischen aufgenommen, durch deren Geschichten ihm der fremde Ort immer vertrauter wird. Meine Mutter möchte davon nichts hören. Sie bestellt sich ein Glas Wein auf ihr Zimmer und beginnt mit ihrer Lektüre. Wenn es dämmert, kleidet sie sich um, kämmt das lange Haar aus, wechselt die Schuhe. Dann wagt sie sich in die Hotelhalle, wo mein Vater sie abholen wird. Sie spricht noch einige Sätze mit dem Empfangschef, aber sie will nur die Zeit überbrücken, bis mein Vater in der Drehtür erscheint. Er lacht, er hat einen schönen Tag verbracht, er ist weit gegangen; meiner Mutter macht das nichts aus. Sie freut sich, wenn sie ihn so lachen sieht. Dann gehen die beiden hinaus; irgendwo werden sie einkehren, um zu essen. Mein Vater wird eine Flasche Wein bestellen, und sie werden sich unterhalten. Sie unterhalten sich gut, obwohl sie schon mehr als vierzig Jahre verheiratet sind. Wenn ihnen nichts mehr einfällt, sprechen sie von mir, vielleicht auch jetzt, an diesem Abend.
Meine Mutter wird nur eine Woche in der Schweiz bleiben, wie gewöhnlich, aber sie läßt das Haus nicht gern im Stich. Die Dinge haben hier eine beinahe übernatürliche Ordnung. Alles steht an seinem Platz, der Keller ist aufgeräumt, auf dem Boden liegt nichts herum. Im Erdgeschoß befinden sich die Wohnräume meiner Eltern, zum Garten hin die große Küche, daneben das Speisezimmer, an das sich, nur durch eine Schiebetür getrennt, das Wohnzimmer anschließt. Seit mein Vater herzkrank ist, haben sie auch das Schlafzimmer nach unten verlegt, um im Notfall nicht die Wendeltreppe hinaufsteigen zu müssen. Oben könnte eine zweite Familie leben, und daran hatten meine Eltern wohl auch gedacht, als sie das Haus bauen ließen. Küche, Bad, drei schöne, geräumige Zimmer. Aber hier wohnt niemand. Die Räume bleiben meistens verschlossen. Nur ich darf sie benutzen, und mit der Zeit habe ich viele Gegenstände, die ich nicht gern entbehren möchte, hierher gebracht, darunter zahllose Bücher, so daß aus einem der Räume ein Bibliothekszimmer geworden ist.
Aber auch im oberen Stock ist die Ordnung übernatürlich. In den letzten Jahren hat sich kaum etwas verändert. Da ich unfähig wäre, eine solche Ordnung von einem Tag zum anderen aufrechtzuerhalten, bewundere ich den sicheren Zugriff meiner Mutter. Nach meiner Abreise stellt sie alle Gegenstände an ihren ursprünglichen Platz zurück, so daß ich sie einige Wochen später wieder vorfinde, zeitversunken, als hätte nie jemand an ihnen gerührt. Das Gefühl, das mich jedesmal überrascht, wenn ich nach einer solchen Ankunft das obere Stockwerk betrete, möchte ich für mein Leben nicht missen. Ich stelle das Gepäck ab, ich gehe umher, ich setze mich, ich atme tief durch, ich gehe ans Fenster, der weite Blick: der steil abfallende Garten vor dem Haus, die schmale Landstraße, die Wiese, der Tannenwald, und weiter und weiter, Äcker, Wiesen, unscheinbare Straßen, ganz in der Ferne eine höhere Erhebung, der Hümerich, ein Blick, mit dem ich für Minuten eine unergründliche Ruhe einsauge, die mich alles abschütteln und vergessen läßt, was ich in der Stadt erlebt und hinter mich gebracht habe. >Ruhe nach dem Sturm<, sagt meine Mutter, doch sie begleitet mich nie nach oben, sie wartet, bis ich diese Minuten der Beruhigung genossen habe. Ist das ein Heimatgefühl? Mag sein; es ist eine Art Wiederfinden, eine Begrüßung des ruhenden, neugeborenen Ichs. Wenn ich aus dem Fenster schaue, weiß ich: alles, was du in den letzten Wochen getan hast, taugt nicht viel, wenn du es mit diesem Blick vergleichst. All deine Arbeit, die Baubesichtigungen, die Konferenzen, die ungezählten Termine, zerfallen in ihrer Bedeutung. Daher hat mich dieser Blick etwas gelehrt; ich schätze vieles anders ein, ich rege mich nicht mehr auf, wenn mir etwas dazwischen kommt; meine Arbeit ist nur ein Rumoren im All, ich lasse Steine zu kleinen Gebäuden verschieben. Dieser Blick ist etwas anderes: >alles, was der Natur entspricht, ist wertvoll<, habe ich einmal gelesen. Das ist es. Oder irre ich mich?
Ich gebe zu, während der Abwesenheit meiner Mutter halte ich mich nicht den ganzen Tag im Haus auf. Mir fehlt ihre Unterhaltung, und es ist beinahe zuviel verlangt, dieses Haus in Besitz zu nehmen wie ein Eroberer, der sich nicht viel denkt. Denn die übernatürliche Ordnung, von der ich sprach, ist die Ordnung, die meine Mutter den Dingen gibt. Mein Vater trägt sie mit, aber er vernichtet sie auch an manchen Tagen mit der Willkür eines Eingekreisten, dem die Fürsorge seines Pflegers auf die Nerven geht. Ich selbst liebe die Einrichtung des Hauses so, wie sie meine Mutter geplant hat. Müßte sie meinen Zwecken entsprechen, würde ich die Möbel verschieben, die Bilder umhängen, die Tapeten von den Wänden reißen. Doch dies Haus ist vor allem das Haus meiner Mutter, daran wird sich nichts ändern, erst recht nicht, wenn ich es hüte.
Daher ziehe ich an den Abenden in das kleine Blockhaus, das ich mir vor einigen Jahren im oberen Teil des Waldes errichtet habe. Nie hat mir ein Bau soviel Vergnügen gemacht; Waldarbeiter haben mir geholfen. Ich hatte bemerkt, daß in der Gegend Telefonmasten ausgewechselt wurden, und als ich mich bei der Post erkundigte, stellte sich heraus, daß die alten Masten für wenig Geld zu haben waren. Sie sind gut imprägniert, sie werden für Jahrzehnte halten. Das Haus hat zwei Fenster, eins zur Seite hin, so daß man in den Wald schauen kann, das andere nach vorn, so daß der Blick aufs Wohnhaus fällt. Ich habe mir eine Liege, einen Tisch und einen Stuhl anfertigen lassen, sie entsprechen ganz meinen Vorstellungen.
Am Abend nehme ich ein paar Bücher, eine Flasche Wein und einen Packen Papier mit, ich ziehe ins Blockhaus. Auf diese Weise entferne ich mich doch einige Schritte von den Ordnungen meiner Mutter. Im Blockhaus läßt es sich freier denken. Ich lese eine Weile, ich trinke den gut gekühlten Riesling, den ich mir aus dem Weinkeller geholt habe. Nichts ist zu hören. Das Licht fällt auf die weißen Papierbögen. Gut, also — ich schreibe.
Gestern kam ich gegen Mittag hier an. Das Haus auf dem einsam gelegenen Waldgrundstück ist für einen Fremden nicht leicht zu finden. Im Sommer liegt es verborgen zwischen den mächtigen Bäumen, die der heftig wehende Wind zurechtgedreht hat, im Winter hinter den Wällen aus Schnee, die es an manchen Tagen sogar unerreichbar machen.
Oft denke ich, es ist ein Versteck. Ich fahre den kleinen Waldweg herab, ganz in der Nähe des Hauses kommt der Wagen zum Stehen. Da sehe ich sie schon, erst ihre hell gekleidete, hinter dem Fenster hin und her huschende Gestalt. Wahrscheinlich hat sie die letzten Stunden auf diesen Augenblick gewartet. Sie mag vor dem Fenster gesessen haben, mit irgendeiner kleinen Tätigkeit beschäftigt; vielleicht hat sie es auch einmal geöffnet, um das Motorengeräusch frühzeitig zu hören. Doch das glaube ich nicht. Das Fenster stand noch nie offen, wenn ich ankam, vielmehr bemerke ich erst kurz nach meiner Ankunft ihren eiligen Griff, der es öffnet. Sie winkt, und dabei höre ich die in die Stille des kleinen Wäldchens einschlagenden Freudenlaute, die niemand außer uns beiden versteht. An diesen Lauten erkennen wir uns.
Ich antworte ihr, aber erst wenn sie mein Rufen, dieses Erkennungsbegrüßen, gehört hat, kommt eine stärkere Bewegung in ihre Gestalt. Sie löst sich vom Fenster, und ich weiß, daß sie mir jetzt entgegenkommt, das Haus verläßt, während ich mein Gepäck neben den Wagen stelle. Mein Vater wartet im Haus.
So ist es meist gewesen. Früher kam mir diese Begrüßung merkwürdig vor. Erst seit einigen Jahren habe ich mich daran gewöhnt. Ich sehe ihre Freude über meine Ankunft, aber ich bin dann doch etwas verlegen, wenn sie meinen Oberkörper zu sich herunterzieht.
Wir lassen das Gepäck wie einen Fremdkörper neben dem Wagen stehen, wir haben es eilig, ins Haus zu kommen; später werde ich Koffer und Taschen hineinbringen. Sie hakt sich bei mir ein, und da sie erheblich kleiner ist als ich, gehe ich mit ihr, wie durch ein Gewicht zur Seite gebogen, auf den Eingang des Hauses zu. Sie erklärt mir die Veränderungen, die sich seit meinem letzten Besuch im großen, wild wachsenden Garten ereignet haben. Aber sie spricht eilig, als bedeute dies Gerede nichts, und sie mag inzwischen auch wissen, daß ich noch nicht gut zuhören kann.
Ein Beobachter könnte wohl meinen, wir sprächen da miteinander. Das ist es aber nicht. Wir werfen uns lediglich Sprachbrocken zu, sie haben nicht viel zu bedeuten. Merkwürdig, früher überkam mich ein seltenes Wohlbehagen, wenn sie die Tür öffnete. Es war doch, als käme ich nach Haus. Das ist jetzt anders. Es ist, als träte ich ein in unbekannte Dunkelheit. Soll man diesen Gefühlen vertrauen oder sollte man versuchen, sie zu erklären?
Oft fuhr ich hierher, wenn ich mit meiner Arbeit nicht vorankam. Mit dem Wagen brauche ich etwa zwei Stunden. Hier lassen sich die für unüberwindbar gehaltenen Probleme meist lösen. Ich gehe spazieren, ich laufe in den ersten Stunden geistesabwesend herum. >Er schäumt<, sagt meine Mutter, >bald erkenne ich ihn wieder<. Eine Zeitlang lassen meine Eltern mich in Ruhe. Wir sprechen nicht viel, sie gehen ihren Verrichtungen nach. Am zweiten Abend kommt es zum längeren Gespräch. Dann habe ich meist die wichtigsten Entschlüsse schon gefaßt. Der Entwurf einer Zeichnung geht mir leicht von der Hand, eine Skizze interessiert mich wieder, jeder Strich ist nur so und nicht anders denkbar. Ich hasse das Gefühl, dem Ungefähren preisgegeben zu sein, der Zufall ist eine Nötigung. Stattdessen verfolge ich eine Idee, einen Plan oft mit zuhälterischer Intensität. Ich muß einem Gedanken auf der Spur bleiben, ihn Tag und Nacht unter Bewachung halten. Im Unterbewußtsein geht er seinen Gang, aber er treibt am Ende auf das eine Ziel, die eine Gestalt, die einzige Lösung zu. Es gibt nie mehrere Lösungen, es gibt nur die Lösungen, die mit der inneren geheimen und endlich doch ans Tageslicht gebrachten Form meiner Vorstellungen übereinstimmen. Diese Übereinstimmung, der Einbruch des umgewandelten Gedankens ins Gehäuse meiner Natur, läßt mich so etwas wie Glück empfinden. Alles erscheint plötzlich leicht; das ist für mich der Lohn des Nachdenkens, der Arbeit. Es gibt keinen anderen Lohn.
Diesmal stehen keine solchen Probleme an. Wie gesagt, ich habe während des Winters viel gearbeitet. Zwei Kollegen fielen wegen schwerer Erkrankungen wochenlang aus. Ich habe getan, was ich konnte. Ich freue mich auf diese Woche, niemand wird mich belästigen. Vielleicht werde ich einige Besuche machen, man wird sehen. Auch solche Besuche in der Nachbarschaft bedürfen der Vorbereitung, ich will niemandem in die Quere laufen.
Unvorhergesehene Treffen haben mich oft genug erschreckt. Aber wem sollte ich hier, an diesem einsamen Platz, schon begegnen? Der nächste Ort, das kleine Dorf Knippen, liegt eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt. >Wir wohnen außerhalb<, sagt meine Mutter, und auch das hat sie so gewollt. Viele Verwandte wohnen im Dorf, aber sie sind auf meinen Wunsch hin nicht von meiner Anwesenheit verständigt. Ich werde sie aufsuchen, wenn es sich so ergibt.
Knippen liegt an der Sieg, im nördlichsten Teil des Westerwaldes. Der Ort schmiegt sich in eine Krümmung des Flusses, eine kleine Hügelkette schließt ihn nach Norden zu ab. Doch ich werde nicht häufig hinuntergehen, alles, was ich brauche, ist im Haus vorhanden. Die Vorratskammer ist meist gefüllt, da auch meine Eltern keine Lust haben, täglich nach Knippen zu fahren. Es lohnt sich nicht. Dieselben Menschen, dieselben Gespräche. Lüstern tasten einen die Dorfbewohner nach Neuigkeiten ab, eine Zeitlang witterten sie meine Heirat voraus. Ich mußte sie enttäuschen, aber es war gut, daß ich über solche Angelegenheiten nie laut gesprochen habe. Sie schätzten mein Alter, ich mußte an der Reihe sein; aber sie vergessen schnell. Ich bin jetzt knapp über dreißig Jahre alt, da ist es für viele hier zur Heirat zu spät. Schon die jungen Mädchen schleichen mit Brautaugen umher, noch immer. Sie kommen nicht weit hinaus, und die Familien sind kinderreich, so daß die Eltern froh sind, wenn die Kinder das Haus verlassen. Ein paar flüchtige Bekanntschaften, ein paar längere Blicke, die erste gemeinsam verbrachte Nacht — schon sind sie aneinandergeschweißt und lassen einander ein Leben lang nicht mehr los. Man hat mich nie mit einer Frau in Knippen gesehen. Das ist gut so. Das Gerede verstummt vor meinem unbeweglichen Gesicht. Ich erkundige mich nach den neusten Ereignissen, den Geburten und Todesfällen. Aber man weiß, ich bin daran nicht beteiligt, der Kreislauf der Gerüchte erreicht mich nicht. Es ist von Vorteil, ein Unbekannter zu sein und doch von allen gekannt zu werden.
Nach meiner gestrigen Ankunft verbrachte ich den ganzen Tag mit der Mutter. Wir aßen zusammen, wir gingen spazieren. Sie erzählte von den ausgiebigen Schneefällen der letzten Wochen. Das Haus war meterhoch zugeschüttet, an einen Ausgang war nicht zu denken. Auch ich habe solche Schneefälle früher erlebt. Als Kind saß ich auf dem Fensterbrett und wartete darauf, eingeschlossen zu werden. Man konnte sich nicht wehren, von Stunde zu Stunde wurde es nur noch schlimmer. Bald war der Gehweg nicht mehr zu sehen, längst war der letzte Wagen vorbeigefahren. Dann wurde der Schneefall noch dichter, sackte die Sträucher ein, bog die Tannen zur Erde, leckte die Bäume wie dürre Streichhölzer. Ich saß ganz still, nichts rührte sich mehr, nun konnte man sterben.
Später nannte ich dieses Gefühl >den leichten Tod<. Ich hatte die Wendung irgendwo gehört und benutzte sie das erste Mal, als während der Weihnachtszeit der Schnee beinahe ununterbrochen drei Tage lang fiel. >Wir sterben einen leichten Tod<, sagte ich an einem Abend in die Stille hinein. Ich werde den Satz nie vergessen, weil mir zum erstenmal befohlen wurde, einen Satz kein zweites Mal auszusprechen, ja ihn nie zu wiederholen. Ich begriff nicht: wie konnten Worte und Sätze eine solche Macht entfalten? Hatte ich einen Zauberspruch entdeckt, ein Geheimnis offenbart, an etwas Verbotenes gerührt?
Ich zog mich ins Bad zurück und wiederholte den Satz im stillen. Schwankte nun die Erde, strafte mich ein Blitz? Ich bemerkte nichts, aber das Unbehagen war nicht zu unterdrücken. Ich hatte einen Satz entdeckt, der vom Kopf bis in den Magen reichte, auf- und absteigend wie eine unter Druck stehende Flüssigkeit, die nicht entweichen durfte.
Doch davon war gestern nicht die Rede, und ich habe mir nicht vorgenommen, auf diesen Blättern von meiner Kindheit zu berichten. Ich will vielmehr die Ruhe dieser Tage an den Abenden festhalten. Erst das Schreiben verankert die Tätigkeiten in meinem Bewußtsein. Auch das ist eine Entdeckung, die ich schon in der Kindheit machte, denn als ich das Schreiben lernen sollte, fiel mir das anfangs schwer. Ich sträubte mich gegen die Verwandlungsfähigkeit der Buchstaben. Sie waren beweglich wie Quecksilber, sie veränderten andauernd ihr Aussehen, sie irritierten mich. Als ich einen Satz von der Schultafel ablesen sollte, geriet ich ins Stottern. Die Buchstaben zitterten wie eine Fata Morgana in der erwärmten Luft. Ich konnte das flimmernde Bild nicht zum Stehen bringen, so sehr ich mich auch anstrengte. Es war wie ein innerer Krampf, ich sollte etwas erkennen, das mir fremd war, ich sollte etwas wiederfinden, das ich noch nie in der Hand gehabt hatte. Das Stottern ließ auch später nicht nach. Mir wurde übel, wenn man mich zum Lesen zwang. Geräusche entstanden, jemand schmatzte vor sich hin, gurgelte mir einige Laute vor - warum sollte ich es ihm nachtun? Die Schrift erschien mir als eine Belastung, eine Bestrafung für Stumme, die nicht ausdrücken konnten, was ein Gesunder leicht über die Lippen brachte. Ich zog mich zurück, ich wollte kein Wort mehr sagen, wenn es einem durch die Schrift doch nur verdorben wurde. Erst meine Mutter hat mir geholfen. Sie schnitt die Buchstaben aus buntem Papier zurecht, wir legten sie auf den Tisch, und ich durfte sie beschreiben. >Das H geht auf Stelzen<, >das E greift nach Feuer<, >das O denkt nach<, >das T schützt vor Regen<. So lernte ich die Buchstaben besser kennen. Jeder von ihnen enthielt einen Zauber; nacheinander aufgeschrieben, hüteten sie das Geheimnis der Welt. Alles, was ich nicht verstand, wurde durch sie bezeichnet und zur Ruhe gebracht. Ein Tag, den ich längst schon vergessen hatte, konnte noch einmal entstehen und auf dem Papier für immer sichtbar werden. Ich begann zu schreiben, allmählich löste sich meine Verkrampfung. Seit ich zehn Jahre alt bin, habe ich geschrieben, ohne Zweck, ohne Ziel, alles, was mir einfiel. Anfangs setzte ich Romane fort, deren Ende mich enttäuscht hatte, später erfand ich selbst Figuren, die, wie man so sagt, nach dem Leben gebildet waren. Durch mein Schreiben kamen sie mir näher. Ich zog sie langsam zu mir heran, ich legte ihnen die Schlingen der Buchstaben um den Hals, ich tauchte sie in die Tinte, mit der ich schrieb. Das Schreiben entwickelte meine Phantasie; durch sie herrschte ich über die langweilig leere Welt. Tote konnten auferweckt werden, Freunde konnten mich besuchen, eine Schar von Gefährten bestand mit mir Abenteuer und Kriege. Ich träumte, aber nur die Schrift gab diesen Träumen eine Bewährung, nur sie umschloß ihren Sinn und ließ sie nicht verkümmern. Denn nur durch die Schrift nahmen meine Träume Gestalt an, wurden fortsetzbar und traten mit der Zeit an die Stelle erlebter Geschichten. Ich schrieb wie ein Verführter, ja wie ein Gefangener, der mit jeder Zeile einen Stab des Gefängnisgitters bricht. Heute weiß ich, ich fühlte mich allein. Die Buchstaben ersetzten die Brüder, die es nicht gab. An Schwestern dachte ich nie.
Wenn meine Mutter im Haus ist, finde ich keine Zeit zum Schreiben. So auch gestern abend nicht. Wir sehen uns so selten, daß jeder nicht gemeinsam verbrachte Abend eine Kränkung bedeuten würde. Hinzu kommt, daß ihre Gegenwart mich vom Schreiben ablenkt. Wir sprechen viel miteinander, und sie sorgt dafür, daß keine Pausen entstehen. Manchmal wäre es mir lieber, sie schwiege einmal für einige Zeit, aber sie käme nie auf diesen Gedanken. Sie will die wenigen Stunden unseres Zusammenseins ausfüllen, mit Worten, mit Sätzen. Eine Pause ließe den Ablauf eines Gesprächs zusammenbrechen. Meine Mutter hat keinen Sinn für Pausen, daran liegt es. Sie versteht ihre Bedeutung nicht. Sie glaubt, daß Pausen zwischen den Sätzen Lücken aufreißen. Sie verliert den Faden, muß von neuem beginnen, überspringt etwas Wichtiges, kommt aus dem Tritt. Wenn ich es so überlege, ist meine Mutter eine Erzählerin, aber eine besonderer Art. Wenn sie eine Geschichte erzählt, wird sie diese Geschichte immer in derselben Weise erzählen, man mag sie noch so oft bitten. Sie wird dieselben Worte benutzen, dieselben Details erwähnen, dieselben Wertungen beibehalten. Eine Geschichte hat in ihrer Erinnerung einen unumstößlichen Platz. Noch heute erzählt sie Geschichten, die vierzig, ja fünfzig Jahre zurückliegen, so, wie sie alles früher erzählt hat. Es gibt nicht die geringste Abweichung, und oft erscheint es einem so, als zitiere sie diese Geschichten nur, als läse sie diese weitausholenden Erzählungen von einer Schriftrolle ab, die der Zuhörer durch sein Nachfragen Stück für Stück weiter aufrollt.
Im Februar 1933, erzählt sie dann etwa, ging ich wie an jedem Sonntagmorgen in die Pfarrbibliothek. Die befand sich damals gleich neben der Kirche, auf dem Kirchplatz, in jenem Teil des Dorfes, das man früher »den halben Mond« nannte. Die Ausleihe war nur an Sonntagmorgenden geöffnet, dann kamen die meisten Knippener zum Gottesdienst. Während der Woche hatte kaum einer Zeit. Du mußt bedenken, viele arbeiteten hart. An den Wochentagen hatten sie kaum eine freie Stunde. Doch sonntags nahmen sich selbst die Bauern aus der Umgebung die Zeit, in die Kirche zu gehen, zu Fuß, oft kilometerweit. Nach den Gottesdiensten stand man auf dem Kirchplatz zusammen, man unterhielt sich und zog nach der letzten Messe in Stocks Wirtschaft. Dort setzte man die Unterhaltungen fort, bis über den Mittag hinaus; viele gingen erst am Nachmittag zu den Höfen zurück, und einige schauten auch bei mir hinein, um sich ein, zwei Bücher auszuleihen. In Knippen gab es damals nur eine Bibliothek, und ich durfte sie leiten. Die Woche über war ich damit beschäftigt. Ich ordnete die Bücher, ich brachte die Kartei auf den neusten Stand, ich füllte Bestellisten aus; wenn die notwendige Arbeit getan war, hatte auch ich Zeit zum Lesen. Oh, ich habe dort viel gelesen, denn uns Kindern war es im Elternhaus verboten. Die Mutter sah es nicht gern. Die Mädchen sollten Handarbeiten machen, die Jungen hatten sowieso kein Interesse, außer Carl, dem Ältesten, der viel gelesen hat und zurückgezogen von uns anderen lebte. Carl war der Lieblingssohn, nicht nur weil er der älteste war. Er war stiller als wir, er richtete nichts Schlimmes an, er fiel nicht auf. Seine Geduld konnte uns aufregen; nie geriet er in Zorn, nie gab er ein böses Wort zurück. Wir Mädchen hatten es schwer mit ihm. Waren wir ihm böse, heiterte er uns durch eine Geschichte auf, anstatt uns die Bosheit heimzuzahlen; lachten wir über ihn, zog er sich zurück, ohne uns etwas nachzutragen. Wir kannten uns lange nicht aus mit ihm . . .
Ja, so erzählt meine Mutter, und ich breche hier ab, um ihre Geschichten nicht zu wiederholen. Ich kenne viele dieser Erzählungen, manche habe ich unzählige Male gehört. Sie visieren etwas Wichtiges an und verlieren es dann aus den Augen. Man kann es leicht erkennen. In der angebrochenen Geschichte wollte sie von einem Februarsonntag 1933 erzählen, einem Tag, den sie nie vergessen wird. Es ist ein wichtiger Tag, für meine Mutter, aber auch für Knippen. Doch es gelingt ihr nicht, das Wichtige in knappen Zügen zu erreichen, es hervorzuheben, es schließlich zu treffen. Statt dessen wandert sie, sie streunt in ihren Erzählungen um das Wichtige geradezu herum; man könnte das entschuldigen, man könnte sagen, es handelt sich um eine gewisse Weitschweifigkeit. Sie trägt Schicht für Schicht heran, und über der bedeutsamen Erzählung wuchert immer mehr das Unkraut der Erinnerung. Menschen treten hinzu, die in dieser Geschichte nichts zu suchen haben, die Erinnerungen fluten ineinander. So verwandelt sich die Geschichte eines Februarsonntags in die Geschichte meines Onkels, aus dieser entwickelt sich wiederum eine andere, schon wächst das Geflecht immer undurchdringlicher zusammen.
Meine Mutter erzählt nicht, wenn man es streng nimmt; sie gibt den Erzählungen Raum, freien Auslauf. Das macht es mir so schwer, ihr zuzuhören. Was kommt am Ende dabei heraus? Man ist durch einen Garten spaziert und hat den Ausgang verloren, man sucht verzweifelt nach dem Brunnen, dessen Plätschern man schon seit Stunden hörte. Viele Knippener Geschichten leiden unter diesen Fehlern, es sind Dorfgeschichten, die wie Rauch in den Himmel steigen. Der eine erzählt ein Ereignis so, der andere versucht es auf seine Weise. Hält man alle Geschichten gegeneinander, entsteht nichts anderes als ein undurchdringlicher Wust von Rätseln und Sprüchen. Die Knippener prosten sich mit ihren Geschichten zu. >Zum Wohl, schluck mit mir<, so könnten sie sagen, wenn sie anfangen zu erzählen. Aber es bleibt keine Trunkenheit zurück. Wovon auch immer sie erzählen, die Geschichten hinterlassen keine Spur. Die Erzähler sitzen im Käfig ihrer eigenen Worte, sie decken sich beinahe liebevoll mit ihnen zu, sie wühlen sich wie Erdmäuse immer tiefer ins Dunkel.
Erst spät habe ich bemerkt, daß man nur auf diese Weise vergessen kann. Daher sträube ich mich gegen die Erzählungen meiner Mutter. Sie verbirgt die wichtigsten Ereignisse hinter den Nebensächlichkeiten, sie erzählt mit unerschütterlicher Gewißheit darüber, wie es weitergehen muß. Aber während sie spricht, rückt das Wichtige in Vergessenheit, es kippt langsam ins Dunkel, und statt dessen blüht meine Mutter, immer eifriger fortfahrend, in der Wiedergabe ihrer Geschichte auf, unbeirrbar der Meinung, sie nähere sich ihrem Ziel. Meine Mutter vergißt, indem sie erzählt; aber nur indem sie erzählt, beherrscht sie ihr Vergessen.
Es ist spät geworden. Eigentlich wollte ich vom gestrigen Abend berichten, vom heutigen Tag ganz zu schweigen. Doch ich will den aufgenommenen Faden fortspinnen. Mir ist etwas aufgefallen.
Ein nach dem Krieg geborener Sohn nutzt die Woche, die er im Haus seiner Eltern verbringt, um sich ein Bild vom Leben seiner Mutter während der Nazi-Zeit zu machen. Er kennt zwar die Briefe, die die Mutter in dieser Zeit geschrieben hat, er hat ihre Tagebücher gelesen, und er hat mit Bekannten, Freunden und Nachbarn gesprochen, und er hat viel von seiner Mutter aus dieser Zeit erfahren - dennoch muss er für dieses tragische Geschehen, in dem die Mutter ihren ersten Sohn verliert, seine eigene Sprache finden. Nur auf diese Weise kann er sich aus dem Unglück, an das sie gefesselt ist, endlich lösen ...
"Ein Roman von bewundernswerter Authentizität ..." SWR
Ortheil, Hanns-JosefHanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
MONTAGABEND
Gestern abend habe ich meine Mutter zur Bahn gebracht, nun bin ich allein. Als sie mich am Telefon fragte, ob ich während ihrer Abwesenheit das Haus hüten wolle, habe ich sofort zugesagt. Es ist März, und an den Abenden hält sich die Wärme schon auf der kleinen Anhöhe, auf der das Haus mitten im Wald steht. Ich habe im Winter viel gearbeitet, die Ruhe hier wird mir guttun. So brauchte ich nicht lange zu überlegen. Im Büro hatte niemand etwas gegen meine Abwesenheit einzuwenden. Ich bin Architekt, aber ich liebe meinen Beruf nicht besonders. Meine Gedanken sind, wie man so sagt, oft woanders. Ich habe eine starke Neigung zur Musik, und wenn dies und das sich erfüllt hätte, wäre ich ein guter Pianist geworden. Aber es genügte mir nicht, ein mittelmäßiger Pianist unter tausenden zu sein. Ich war ehrgeizig, und als mich der Ehrgeiz aufzufressen begann, entschloß ich mich, einen Beruf zu wählen, in dem er nichts ausrichten konnte. Wahrhaftig, allmählich ist dieser Siegeswille erstickt. Das ist gut so. Ich bin recht bescheiden geworden. Ich lebe allein, die meisten Frauen langweilen mich. Sollte ich ihnen meine Gegenwart zumuten, die Gegenwart eines ruhelosen und schließlich doch nur mit sich selbst beschäftigten Einzelgängers, der zuviel gelesen und zuviel Musik gehört hat, um sich in dieser Welt noch auszukennen? Nein, mir liegt kein Werben, kein freundliches Gesicht, in gewissem Sinn erscheine ich streng. Die Kollegen achten mich, das ist gut so. Mehr verlange ich nicht. Innerlich bin ich mit anderen Dingen beschäftigt. Käme eine Frau, um mich besitzen zu wollen - sie müßte einen Berg erstürmen, sie müßte die Kräfte von Titaniden haben. Wem sollte ich das zumuten? Einmal wäre es fast soweit gekommen. Aber im letzten Augenblick habe ich bemerkt, daß ich verurteilt sein würde, ein Leben zu zweit zu führen. Weiß einer genau, was das heißt? Ich wußte es plötzlich. Soviel Verantwortung kann ich nicht tragen. Ich würde meine Frau enttäuschen, und es gelingt mir ganz gut, allein zu sein. Nein, ich bin nicht unzufrieden, nur störrisch, nur besessen von meinen Launen. Aber niemand nimmt einen Schaden daran. Im Büro erscheine ich selten freundlich, aber man kann sich auf mich verlassen. Ich helfe meinen Kollegen, wenn sie einmal früher nach Hause wollen, um auszugehen oder mit der Familie einen schönen Abend zu verbringen. Ich besitze kein Fernsehen, Fernsehbilder fesseln mich nicht; ich lese viel, ich höre Musik bis spät in die Nacht, oh, ich bin gerne allein.
Auch in diesem Jahr ist mein Vater wieder in die Schweiz gefahren, um sich für einige Wochen zu erholen. Meine Mutter hält es nicht so lange dort aus. Die Fremde beunruhigt sie. Gerade in Städten, die sie noch nicht gut genug kennt, gerät sie mit der Zeit in immer größere Verstörung. Oft zieht sie sich in ihr Hotelzimmer zurück, um dort die Nachmittage zu verbringen, an denen die Zeit, wie sie sagt, sehr langsam vergeht, viel langsamer als daheim. Erst an den Abenden traut sie sich hinaus. Mein Vater hat dann meist schon weite Spaziergänge gemacht; er ist hier und da stehengeblieben und hat seine Unterhaltungen mit den Einheimischen aufgenommen, durch deren Geschichten ihm der fremde Ort immer vertrauter wird. Meine Mutter möchte davon nichts hören. Sie bestellt sich ein Glas Wein auf ihr Zimmer und beginnt mit ihrer Lektüre. Wenn es dämmert, kleidet sie sich um, kämmt das lange Haar aus, wechselt die Schuhe. Dann wagt sie sich in die Hotelhalle, wo mein Vater sie abholen wird. Sie spricht noch einige Sätze mit dem Empfangschef, aber sie will nur die Zeit überbrücken, bis mein Vater in der Drehtür erscheint. Er lacht, er hat einen schönen Tag verbracht, er ist weit gegangen; meiner Mutter macht das nichts aus. Sie freut sich, wenn sie ihn so lachen sieht. Dann gehen die beiden hinaus; irgendwo werden sie einkehren, um zu essen. Mein Vater wird eine Flasche Wein bestellen, und sie werden sich unterhalten. Sie unterhalten sich gut, obw
Über den Autor
Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den beliebtesten und meistgelesenen deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis, dem Stefan-Andres-Preis und dem Hannelore-Greve-Literaturpreis. Seine Romane wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Klappentext
Ein nach dem Zweiten Weltkrieg geborener Sohn nutzt die Woche, die er im Haus seiner Eltern verbringt, um mehr über das Leben seiner Mutter während der Nazi-Zeit zu erfahren. Er liest ihre Briefe, spricht mit Freunden und Verwandten und gerät so immer tiefer hinein in die Geschichte einer mutigen und tapferen Frau, die in diesen Jahren ihre ersten beiden Kinder verlor. "Hecke" ist die Geschichte einer verstörenden Recherche und einer intensiven Suche des Nachgeborenen nach einer Sprache, mit deren Hilfe er schließlich auch seine eigene entdeckt und erzählt. Nach dem Debütroman "Fermer" erzählt Hanns-Josef Ortheil hier in deutlich autobiographischer Manier von den verborgenen Hintergründen seiner Kindheit.